DIE EXPERTIN

09.05.2006

Die Latino-Länder

befänden sich auf dem Weltmarkt in einer abhängigen Position, sagt die Wiener Wirtschaftshistorikerin Karin Fischer im SN-Gespräch. Es bestehe ein enormes Macht-Ungleichgewicht zwischen den EU-Staaten und Lateinamerika.

Die Freihandelsabkommen der Europäischen Union mit Mexiko und mit Chile trügen dazu bei, "diese ungleiche Struktur zu perpetuieren". Denn die lateinamerikanischen Partner exportierten in erster Linie gering verarbeitete Primärgüter, was wenig Wertschöpfung bedeutet; dagegen importierten sie vor allem Hochtechnologie-Produkte aus Europa.

Freihandelsverträge

bedeuteten die Öffnung der Märkte für europäische Konzerne, konstatiert Fischer klipp und klar. Es gehe um die strategische Entscheidung der europäischen Großunternehmen, Märkte zu erschließen und zu durchdringen. Freihandelsabkommen seien damit "Instrumente der Mächtigen" - und keineswegs "soziale Wohltaten" für alle Beteiligten.

Karin Fischer hat am "Institut Internationale Entwicklung" der Universität Wien solche Wirtschaftsbeziehungen untersucht. Ihr Befund: Ein "Transnationalisierungsprozess" sei im Gang, bei dem nationale Unternehmen Marktanteile verlören. Freihandel bringe also keine "entwicklungsorientierte Integration".

Ein Beispiel dafür

ist für Karin Fischer die Nordamerikanische Freihandelszone (NAFTA) mit Mexiko, den USA und Kanada, die Anfang 1994 in Kraft getreten ist. Mexiko diene in der NAFTA, sagt Fischer, als "verlängerte Werkbank" der Nordamerikaner - mit geringer nationaler Wertschöpfung für Mexiko. Die mexikanischen Handelsbeziehungen seien damit ganz einseitig auf die USA ausgerichtet.

Mehr noch: Freihandel heiße zwar Exportorientierung, bedeute aber in der Praxis auch, dass der schwächere Partner einem starken Importsog ausgesetzt sei. Freihandel mache in Mexikos Landwirtschaft Menschen "überflüssig", sei somit nichts anderes als ein "ruinöser Wettlauf für lokale Produzenten". Freihandel verschlechtere überdies die Zahlungsbilanz dieses Landes.

Es sei kein Zufall,

dass die EU ein Grundsatzpapier über eine stärkere Hinwendung zu Lateinamerika just in jenem Moment beschlossen habe, als US-Präsident Bill Clinton das NAFTA-Abkommen unterzeichnet und zugleich den Plan für eine gesamtamerikanische Freihandelszone initiiert habe. Die "Lobby" der europäischen Konzerne habe entschieden, bilanziert Fischer, den Markt in Lateinamerika nicht ganz den USA zu überlassen: "Man will ökonomisch einen Fuß drinnen haben."

Eine "Deformation",

die lange nachwirke, sieht die Wirtschaftshistorikerin in der kolonialen Vergangenheit der lateinamerikanischen Länder. Denn die Eroberung des Subkontinents durch die Europäer vor mehr als 500 Jahren habe nicht bloß Ausbeutung, sondern eine frühe Einbeziehung der Kolonien in den Weltmarkt und die strikte Ausrichtung auf die Bedürfnisse der Kolonialherren gebracht. "Gleichberechtigtere Kooperationsformen" als die aktuellen Freihandelsverträge wünscht sich die Expertin heute für das Verhältnis zwischen Europäern und Latinos.

Fischer ortet Signale für eine Strömung, die sich gegen das Engagement der USA auf dem Subkontinent wende. Doch das sei noch nicht gleichbedeutend mit einer gemeinsamen Wirtschaftsstrategie der Latino-Länder. Die Latinos sollten politisch ein neues Integrationsprojekt beginnen, empfiehlt die Expertin.HELMUT L. MÜLLER

© SN

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