Der Schrei der Ausgeschlossenen

11.05.2006

Der Wiener Kongress solle mehr Aufmerksamkeit für die Armen in Lateinamerika bringen. Dies sagt Guatemalas Bischof Alvaro Ramazzini im SN-Interview.

HELMUT L. MÜLLERwien (SN). "Europa muss sich selbst fragen, inwieweit es bereit ist, einen Teil seines Wohlstands zu opfern und ihn den Armen Lateinamerikas zukommen zu lassen."

Bischof Alvaro Ramazzini zweifelt, ob die Europäer zu solcher Solidarität bereit sein könnten. Von "harmonischen Beziehungen" zwischen Europa und Lateinamerika könne man kaum sprechen, betont er im SN-Interview, solange die Industriestaaten weiterhin ihr erklärtes Ziel verfehlten, wenigstens 0,7 Prozent des eigenen Bruttosozialprodukts für die Entwicklungszusammenarbeit auszugeben. Solange die EU-Staaten eine derart hochsubventionierte Landwirtschaft betrieben, werde wohl das enorme Ungleichgewicht zwischen beiden Kontinenten weiter bestehen.

Eher skeptisch sieht der Kirchenmann aus Guatemala die Pläne für ein Freihandelsabkommen der EU mit Zentralamerika. Zu ernüchternd erscheinen Ramazzini die bisherigen Erfahrungen mit solchen Verträgen: Die USA hätten etwa Guatemala mit ihren Agrargütern zu Billigpreisen überschwemmt und so die einheimischen Kleinbauern vom Markt verdrängt. In den USA würden landwirtschaftliche Produkte stark subventioniert; in Guatemala dagegen gebe es solche Subventionen nicht.

Für Bischof Ramazzini steht fest, dass das neoliberale Wirtschaftsmodell gescheitert ist. Sein Befund: Armut und soziale Ungleichheit in Lateinamerika sind noch größer geworden. Sieht er Auswege?

"Ich bin der Überzeugung, dass die natürlichen Ressourcen jenem Land zugute kommen sollten, in dem sie vorhanden sind. Sie sollen die Lebensbedingungen der Menschen verbessern und nicht nur einige wenige bereichern."

Ramazzini kritisiert klipp und klar Handelsbeziehungen, die multinationalen Konzernen den Großteil der Gewinne aus der Förderung von Erdöl und Erdgas oder aus dem Abbau von Gold und Nickel in Lateinamerika verschaffen. Die USA torpedieren Einigung der Latinos Dass Boliviens Präsident Evo Morales die Gasvorkommen seines Landes verstaatlicht hat, findet der Bischof deshalb "in Ordnung". Ebenso das Verlangen von Venezuelas Staatschef Hugo Chávez gegenüber den großen Erdölfirmen, dass der Hauptteil der Gewinne im Lande bleiben müsse.

Ein Zusammenschluss der zentralamerikanischen Länder sei bisher nicht gelungen, beklagt Ramazzini. "Eine solche Integration ist weiterhin unser Traum. Für den Kontinent Lateinamerika gilt das genauso." Diese Pläne vereitele nicht nur der "Geist der Uneinigkeit" bei den Latinos, sondern auch das politische und wirtschaftliche Interesse der USA. Sie versuchten, die gegenwärtigen Prozesse einer regionalen Integration in Lateinamerika zu unterbinden.

Doch Ramazzini lässt keinen Zweifel daran, dass an der misslichen Lage vieler Menschen in Lateinamerika auch die einheimischen Eliten schuld sind. In keinem Land Lateinamerikas sei die Kluft zwischen Arm und Reich so groß wie in Guatemala, rügt der Vorsitzende der nationalen Bischofskonferenz. "Die Realität ist bei uns so, dass die Macht in den Händen einiger weniger liegt, die keinen Wandel wollen."

Als Anwalt der Kleinbauern tritt Ramazzini vehement für eine Landreform in seinem Land ein. Die krass ungleiche Landverteilung in Guatemala (2% der Bürger kontrollieren 60% der landwirtschaftlichen Nutzfläche) erkennt er als Hauptursache für die Armut der Mehrzahl der Menschen und für neue innere Konflikte. Wegen seines Engagements für die Benachteiligten ist der Bischof mehrfach Morddrohungen ausgesetzt gewesen.

Ramazzini hofft, dass sich der Gipfel der EU-Staaten und der Latino-Länder "auch um die Bedürfnisse der Völker" kümmern werde. Denn die Verarmung Lateinamerikas schreite fort, konstatiert er. Allzu oft stellten solche Treffen große wirtschaftliche Erfolge heraus. Dagegen vergesse man gerne auf der mikroökonomischen Ebene die Armen und Ausgegrenzten.

Ramazzini ist ein Hauptredner auf dem Gegen-Gipfel, bei dem 200 soziale Organisationen der internationalen Zivilgesellschaft in Wien einen Kontrapunkt zur Agenda der Politik setzen wollen. Der Bischof bezweifelt zwar, dass die Vorschläge des alternativen Treffens in die Tagesordnung des offiziellen Treffens einfließen werden. Aber auch die Regierenden müssten einsehen, sagt er, dass viele Dinge falsch liefen. Wenn, ja wenn "der Schrei der Ausgeschlossenen" die Ohren der Staatenlenker erreiche.

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